„Prinzip Micra“ neu erfunden

Nissans Kleinwagen

hat deutlich zugelegt

und ist ein

alltagstauglicher Allrounder

Selten war der Name für ein Auto so gelungen wie vor 35 Jahren als Nissan den Micra herausbrachte. Fortan klang Micra nicht nur nach Kleinwagen, das Auto war das, was im Managerjargon heute Benchmark heißt und nichts weiter bedeutet als „das Maß aller Dinge“.  Manchmal setzten die japanischen Autobauer sogar in der Kategorie „mutiges Design“ Ausrufezeichen. So mit dem Modell der dritten Generation, das in den Jahren von 2003 bis 2005 gebaut wurde. Oder mit dem Micra C+C, dem legendären Hardtop-Cabrio, das von 2005 bis 2009 auf dem Markt für Furore sorgte. In den letzten Jahren haben die Nissan-Strategen allerdings mächtig an Boden verloren. Das in Indien gebaute aktuelle Modell verschwand praktisch in der Bedeutungslosigkeit. Langweiliges Design, zum Teil auch Mängel in der Verarbeitung, verdarben den Spaß an Nissans Kleinstem. Dabei war gerade Qualität und Robustheit ein wesentlicher Punkt für den Erfolg früherer Modelle.

Es wurde also höchste Eisenbahn für eine Neuerfindung des Prinzips Micra. Mit dem neuen Wagen, der ab Ende März zu Preisen ab 12 990 Euro auf den Markt kommt, haben die Japaner, soviel sei vorweg genommen, tatsächlich so etwas wie einen Volltreffer gelandet. Das geht schon mal mit dem äußeren Erscheinungsbild los. Zwar wird der Wagen von Nissan als Stadtauto angepriesen, man sieht dem neuen Modell aber auf de n ersten Blick an, dass es erheblich zugelegt hat. Siebzehn Zentimeter ist es länger geworden und  mit 3,99 Metern genauso lang wie der Konkurrent VW Polo. Solche Autos sind – mit Verlaub – keine Stadtwagen mehr, sondern alltagstaugliche Allrounder, zumal in der Breite auch noch acht Zentimeter draufgepackt wurden. Dafür ist das Auto aber sechs Zentimeter flacher als der Vorgänger, was ihm zu einem ziemlich sportlichen Look verhilft. Dazu trägt aber auch die neue Formgebung erheblich bei.

Jetzt dominieren scharfe Kanten statt weicher Rundungen die Silhouette. Besonders beeindruckend ist die Frontpartie mit der kurzen Motorhaube und dem relativ kleinen, so genannten „V-Motion“-Kühlergrill. Sehr elegant haben die Designer die schmalen LED-Hauptscheinwerfer  in die Frontpartie und fast fließend in die Kotflügel integriert. Da die B- und die C-Säule schwarz eingefärbt sind, scheint das Dach – von der Seite aus gesehen – zu schweben. Die hinteren Türgriffe sind so integriert, dass sie kaum zu sehen sind und der Wagen wie ein Zweitürer wirkt. Geliefert wird er übrigens grundsätzlich als Viertürer.

Das Heck ziert wieder eine scharfe Abrisskante sowie Rückleuchten in Bumerangform, die man bereits aus dem Supersportwagen 370 Z kennt. Unterhalb der Hec

kklappe gibt es noch eine im Carbon-Look gehaltene Applikation, die wohl die Stoßstangenfunktion übernehmen soll, falls sich noch jemand an diesen Begriff erinnert. Wo wir schon mal beim Heck sind: Die Ladekante ist sehr hoch, ein doppelter Boden im Laderaum wäre hier sehr hilfreich, wird aber auch als Zubehör leider nicht angeboten.

Mehr als hundert Individualisierungen

Die Nissan-Strategen setzen vor allem auf die Individualisierung des Autos. Unter den zehn verschiedenen Lackierungsmöglichkeiten sind auch einige sehr knallige Farbtöne. Der Erfolg dieser Offensive auf das triste Einerlei In Schwarz und Grau auf unseren bundesdeutschen Straßen steht allerdings in den Sternen. Die Erfahrung der Händler sieht nämlich so aus, dass die Kunden sich gerne die Schockfarben zeigen lassen, im Auftragsbuch sich dann aber Farbtöne finden, die sich kaum vom Straßenbelag unterscheiden. Vier Styling-Varianten mit Kontrastfarben für die Außenspiegel, die Seitenschweller, die Front- und Heckstoßfänger und  Teil- oder Vollfolierung für die Fronthaube, das Dach und die Flanken werden angeboten. Insgesamt ergeben sich für den Kunden über 100 Varianten, seine Individualität mit Hilfe des Autos der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das bunte Treiben findet auch beim Interieur statt. Das Armaturenbrett, die Sitze und die Seitenverkleidung sind ebenfalls individuell zu gestalten. Das sieht lustig aus, vermittelt aber trotzdem ein angenehm wohliges Gefühl, zumal alles sehr hochwertig verarbeitet wirkt. Die Instrumente, Hebel und Knöpfe sind da angeordnet, wo sie zu sein haben.

Ab der mittleren Ausstattungsvariante Acenta werden die  relevanten Fahrzeuginformationen über ein fünf  Zoll großes Display angezeigt. Ein weiteres sieben Zoll großes Touchscreen in der Mittelkonsole dient zur Bedienung der Navigation, des Smartphones sowie der Klima- und Audioanlage.

Zusammen mit den Spezialisten von Bose haben die Nissan Ingenieure exklusiv für den Micra ein so genanntes „Personal Sound System“ entwickelt, das ungeahnten Hörgenuss bietet, leider aber nur in der Topversion Tekna. Zwei Lautsprecher in der Kopfstütze hüllen den Fahrer sozusagen in eine „Audiowolke“ mit verschiedenen stereophonen Effekten. Das ist einmalig und sehr effektiv. Der Beifahrer hat allerdings nichts davon.

Die Platzverhältnisse im Innenraum sind natürlich komfortabler als bei einem echten Kleinwagen. Da der Radstand mit den Außenmaßen nicht ganz mitgewachsen ist und der Radstand nur um 7,5 Zentimeter verlängert wurde, sind die Platzverhältnisse eher relativ. Selbst großgewachsene Fahrer von 1,90 Meter Körpergröße können dank einer langen Sitzschiene die optimale Fahrposition finden. Dafür sorgt auch ein in Höhe und Abstand verstellbares Lenkrad. Dievorderen Sitze sind ohne Fehl und Tadel. Hinten geht es etwas enger zu. Mitfahrer über 1,70 Meter müssen den Kopf einziehen – ein Tribut an die Karosserieform, denn das Dach fällt nach hinten ab.

Was die Ausstattung angeht, hat sich Nissan in den Regalen anderer Modelle des Konzerns bedient, vor allem beim Juke und dem Qashqai. Als einziger Wagen dieses Segments kann der Micra gegen Aufpreis mit einer 360-Grad-Optik ausgestattet werden. Die hat das Auto allerdings auch nötig, denn die normale Rundumsicht ist mangelhaft. Nach hinten sieht man fast gar nichts, was für einen Wagen, der als Stadtauto durchgehen soll, ein Unding ist. Radfahrer, die von hinten kommen, sind praktisch nicht zu erkennen. Da hilft dann auch kein Around-View-System, mit dem nur das eigene Auto rundum beobachtet werden kann. Für die passive Sicherheit ist der Spurhalte-Assistent da, der sonst nur mindestens eine Autoklasse höher eingesetzt wird. 

Die Serienausstattung des Micra ist schon recht beachtlich. Neben den obligatorischen Systemen wie ESP, ABS und Reifendruckkontrolle sind sechs Airbags, ein Notbremsassistent nebst Kollisionswarner, eine Berganfahrhilfe und automatisches Fahrlicht an Bord. Gegen Aufpreis sind noch ein Totwinkel- und Fernlichassistent, ein Notbremssystem mit Fußgänger- und  eine Verkehrszeichenerkennung sowie eine Rückfahrkamera mit Parksensoren zu haben.

Sitze vermitteln Fahrbahnkontakt

Entlang der hügeligen kroatischen Küste konnten wir uns auch vom Fahrverhalten des Wagens ein Bild machen. Man fühlt sich in den für ein Auto dieser Größe erstklassigen Sitzen über den Rücken gut mit der Fahrbahn in Kontakt. Das Fahrwerk ist sehr solide, und der Wagen ist in jeder Situation bestens unter Kontrolle. Über die Lenkung hat man ebenfalls eine gute Rückmeldung, die Federung ist komfortabel, könnte nach unserem Geschmack aber ein wenig härter sein. Das ist aber alles andere als ein Mangel.

Mit dem Verkaufstart im März stehen zunächst nur zwei Motoren zur Verfügung, nämlich ein Dreizylinder 0.9-Liter Benziner und ein 1,5 Liter Vierzylinder-Diesel, jew

eils mit 90 PS. Wir probierten beide aus und würden uns sicher für den Benziner entscheiden. Die Aggregate kommen übrigens von Renault. Der Diesel ist auch vom Hersteller eher als Motor für Flottenkunden gedacht. Die zwei Motoren gibt es nur mit einem allerdings sehr komfortabel zu scha

ltenden Fünfganggetriebe, eine Automatik könnte später angeboten werden. Der Diesel kann mit seinem Drehmoment von 220 Newtonmetern etwas schaltfauler gefahren werden, aber der kleine Benziner steht dem Selbstzünder kaum nach. Im Spurt auf Tempo 100 liegen beide bei knapp zwölf Sekunden. Im Laufe des Jahres will Nissan noch einen Einliter-Dreizylinder ohne Turboaufladung anbieten, der dann 73 PS leistet.

Diese Basisversion wird dann mit 12 990 Euro angeboten. Mit den jetzt lieferbaren beiden Turbomotoren kostet das Auto mindestens 15 790 Euro. Voll ausgestattet und mit Dieselmotor liegt der Wagen bei 19 990 Euro.

Kurzum: Der neue Micra hat mit dem alten Kleinwagen nichts mehr zu tun. Er ist ein vollwertiges Auto, das eher der unteren Mittelklasse zugerechnet werden kann. wh/pmd

Fotos (3): Nissan

Fakten und Technik

Nissan Micra 0.9 IG-T

Maße: 3,99 m/1,73 m/1,46 m (Länge/Breite/Höhe)

Radstand: 2,53 m

Motor: 3-Zylinder-Turbobenziner, 899 ccm

Leistung: 90 PS bei 5500 U/min

Max. Drehmoment: 140 Nm bei 2250 U/min

Höchstgeschwindigkeit: 175 km/h

Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 12,1 Sek.

ECE-Durchschnittsverbrauch: 4,4 bis 4,8 Liter

CO2-Emissionen: 99 bis 107 g/km (Euro 6)

Leergewicht/Zuladung: min. 1053 kg / k.A.

Kofferraumvolumen: 300 Liter (max. 1004 l)

Anhängelast: 1200 kg

Preis: 15 790 Euro